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Strategie Auto

Die dynamisch-aggressive Leapfrogging-Strategie: Zurück an die Spitze der Automobilindustrie

Die deutsche Automobilindustrie befindet sich in einer kritischen Ausgangssituation. Der technologische Vorsprung, den chinesische Hersteller wie BYD, NIO und XPeng im Bereich Elektromobilität und Digitalisierung aufgebaut haben, stellt eine immense Herausforderung dar. Gleichzeitig wird der chinesische Markt mit seiner hohen Dynamik, Innovationsfreude und Kundennähe immer bedeutender. Um sich wieder an die Spitze zu bewegen, müssen deutsche Automobilhersteller sowohl strategische als auch operative Lücken schließen – und dabei eine Restlücke adressieren: die Führung im chinesischen Markt.


Ausgangssituation: Die Herausforderungen der deutschen Automobilindustrie

  1. Technologischer Rückstand: Deutsche Hersteller haben bei der Digitalisierung, der Integration von Betriebssystemen und im Bereich autonomes Fahren gegenüber chinesischen und amerikanischen Unternehmen an Boden verloren.

  2. Langsame Innovationszyklen: Entwicklungsprozesse sind oft zu lang, was dazu führt, dass neue Modelle nicht schnell genug auf Marktveränderungen reagieren können.

  3. Nachhaltigkeitsdruck: Die Erwartungen der Gesellschaft an umweltfreundliche und ressourceneffiziente Fahrzeuge steigen.

  4. Abhängigkeit vom chinesischen Markt: China ist der größte Automobilmarkt der Welt, und eine erfolgreiche Positionierung dort ist entscheidend für die globale Wettbewerbsfähigkeit.


Die dynamisch-aggressive Leapfrogging-Strategie

Um diese Herausforderungen zu meistern, braucht es eine Strategie, die auf mutige Sprünge setzt, um Lücken nicht nur zu schließen, sondern neue Maßstäbe zu setzen. Die dynamisch-aggressive Leapfrogging-Strategie zielt darauf ab, durch radikale Innovationen und strategische Maßnahmen den Wettbewerb zu überholen.

1. Beispiele zur Schließung strategischer Lücken

  • Technologische Führung:

    • Entwicklung bidirektionaler Ladefunktionen (V2G, Vehicle-to-Grid), um Fahrzeuge als Stromspeicher in das Stromnetz zu integrieren. Diese Technologie bietet Potenziale zur Stabilisierung der Stromnetze und schafft einen Mehrwert für Kunden, die durch das Zurückspeisen von Energie Zusatzeinnahmen erzielen können.

    • Entwicklung neuer Batterietechnologien wie Festkörperbatterien, die höhere Energiedichten und kürzere Ladezeiten bieten.

    • Ausbau von Kompetenzen im Bereich autonomes Fahren und Integration KI-gestützter Systeme.

    • Eigenentwickelte Betriebssysteme, die nicht nur die Fahrzeugsteuerung verbessern, sondern auch vernetzte Services ermöglichen.

Konkret sollten diese Entwicklungen mit intelligenten AI-Cockpits, zentralen Rechnerarchitekturen und cloudbasierten OTA-Systemen verbunden werden, wie sie heute in China bereits umgesetzt werden.

  • Kreislaufwirtschaft & "Kreislaufauto"

    • Einführung von Fahrzeugen, die zu 100 % recyclingfähig sind, wie der BMW i Vision Circular.

    • Aufbau geschlossener Materialkreisläufe als Beitrag zur nachhaltigen Differenzierung.

    • Die Idee des "Kreislaufautos" als industriepolitisches Leitprojekt – verbunden mit Ressourcenkreisläufen, modularen Fahrzeugarchitekturen und ökologischem Design – betont die Rolle von Nachhaltigkeit als zukunftsorientiertes Alleinstellungsmerkmal (siehe Auto der Zukunft / Kreislaufauto).

  • Marktorientierte Entwicklung:

    • Lokale Innovationszentren in China nutzen, um Fahrzeuge gezielt für den dortigen Markt zu entwickeln (z. B. das Mercedes Innovationszentrum in Peking).

    • Dabei sollte die Produktentwicklung nicht als bloße Adaption, sondern als echter “local innovation driver” verstanden werden – mit eigener Entwicklungsverantwortung, echter Kundenzentrierung und einem starken Feedback in Mutterhaus.

2. Schließung operativer Lücken

  • Verkürzung der Innovationszyklen:

    • Einsatz agiler Entwicklungsprozesse und virtueller Testumgebungen.

    • Nutzung von Gigacasting-Technologien zur schnelleren und effizienteren Produktion.

  • Flexibilisierung der Strukturen:

    • Abbau von Hierarchien und Bürokratie.

    • Reduzierung des Einflusses politischer Akteure auf Unternehmensentscheidungen, z. B. durch Verkauf der Anteile des Landes Niedersachsen.

  • Produktionsstrategie
    • Aufbau von Smart Factories in Deutschland und Europa als Rückgrat für hochproduktive, kostenführende Fertigung und zur Standortsicherung von Wertschöpfung.

3. Adressierung der Restlücke: Der chinesische Markt

China ist Schlüssel- und Risikomarkt zugleich. Deutsche Hersteller müssen dort Skaleneffekte nutzen, ohne ihre strategische Führungsrolle aus der Hand zu geben.

  • Lokale Partnerschaften: Kooperation mit Huawei, Tencent oder BYD zur Integration von Innovationen und digitalen Services. Solche Partnerschaften können gezielt für Software-Stack, Sprachsteuerung, Navigationssysteme oder vernetzte Services genutzt werden – Bereiche, in denen chinesische Tech-Unternehmen führend sind.

  • In China für China: Fahrzeuge entwickeln, die exakt auf chinesische Kundenbedürfnisse zugeschnitten sind.

  • Lokale Fertigungs- und Entwicklungsstätten aufbauen, aber nur als verlängerten Arm europäischer Entwicklungsführung.Toyota demonstriert aktuell, wie weit Lokalisierung gehen kann, ohne die globale Führung zu verlieren.

4. Toyota: Ein Vorbild für mutige Expansion in China

Toyota hat seine Präsenz in China massiv ausgebaut, um Marktanteile zurückzugewinnen.
Ziel: 2,5 bis 3 Millionen Fahrzeuge jährlich bis 2030, inklusive neuem Werk in Shanghai für Lexus-Elektrofahrzeuge ab ca. 2027.

Das Werk in Shanghai wird erstmals vollständig im Besitz von Toyota gebaut – ein Bruch mit der traditionellen JV-Strategie. Damit unterstreicht Toyota seine langfristige Führungsambition im wichtigsten Automobilmarkt der Welt.

 Erfolgsfaktoren:

  • Autonomie lokaler Führungskräfte
  • Enge Verzahnung von Produktion und Vertrieb
  • Fokus auf Elektrofahrzeuge
  • Delegation von F&E-Verantwortung an lokale Teams im Rahmen der „China R&D 2.0“-Strategie – ein mutiger Schritt für schnelle Innovationszyklen

 

Lehre für deutsche Hersteller:

  • China-Präsenz ausbauen, aber die Zentrale für Technologie- und Architekturentscheidungen in Deutschland halten, um globale Strategien selbst zu führen.
  • Zugleich sollten produktionsrelevante Entscheidungen zunehmend lokalisiert werden – bei gleichzeitiger Wahrung europäischer Führungs- und Qualitätsstandards.

Zusätzliche Erfolgsfaktoren: Europa als Skalierungsbasis

1. Nutzung des europäischen Binnenmarkts

  • Harmonisierung von Standards und Abbau von Handelshemmnissen zur Beschleunigung von Entwicklungs- und Markteinführungsprozessen.

  • Europäische Förderprogramme für Ladeinfrastruktur, Batterieforschung und Pilotprojekte zu Vehicle-to-Grid (V2G).

2. Business-Ökosysteme aufbauen

  • Hersteller, Zulieferer, Forschung und Start-ups zu dynamischen Netzwerken verknüpfen.

  • Clusterbildung in Aachen, Stuttgart, München, Leipzig als europäische Automotive-Hochburgen.

  • Gezielte Start-up-Förderung für KI, autonomes Fahren, digitale Produktion.

3. Digitale Vernetzung und Datenplattformen

  • Einheitliche europäische Plattform für Hersteller, Zulieferer und Kunden.

  • Nutzung von Big Data zur schnellen Anpassung von Angeboten und Services.

4. Europäische Konsortien und acatech

  • Aufbau eines europäischen Technologie-Konsortiums für gemeinsame Standards bei autonomen Fahrsystemen und digitalisierten Produktionsketten.

  • acatech als Koordinator für Standardisierung, Kreislaufwirtschaft und Technologietransfer.

5. Einzigartige Kundenerlebnisse schaffen

  • Flexible Nutzungsmodelle wie Fahrzeug-Abos oder Car-on-Demand.

  • Personalisierte Services durch KI-gestützte Datenanalyse.

  • Nahtlose digitale Ökosysteme, die Fahrzeug, Fahrer und Serviceanbieter verbinden.

Fazit: Die Zeit zum Handeln ist jetzt

Die deutschen Automobilhersteller stehen vor einer epochalen Herausforderung.

Mit einer dynamisch-aggressiven Leapfrogging-Strategie, die technologische und operative Lücken schließt, die Restlücke China adressiert und gleichzeitig die Entwicklungs- und Strategieführerschaft in Deutschland sichert, kann die deutsche Automobilindustrie die globale Spitzenposition zurückerobern.

  • Kurzfristig: Mutige Innovationssprünge und starke Präsenz in China.
  • Mittelfristig: Operative Exzellenz, schnellere Zyklen und klare Kundenorientierung.
  • Langfristig: Europäische Business-Ökosysteme, Kreislaufwirtschaft, Smart Factories und globale Führungsrolle von Deutschland aus.

Nur wenn Deutschland und Europa die Entwicklungshoheit behalten, bleibt die Fähigkeit erhalten, die globale Strategie zu führen und den für unseren Wohlstand und unsere Lebensweise notwendigen Anteil an Wertschöpfung in Europa zu sichern.

Andernfalls droht die Degradierung zur verlängerten Werkbank – mit Transplant-Standorten in Osteuropa statt strategischer Wertschöpfung in Deutschland.

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