Warum Deutschland lernende Normen braucht statt juristisch verfestigter Regelwerke
Die Diskussion über Überregulierung wird in Deutschland meist auf Gesetze, Verordnungen und Verwaltung reduziert. Diese Perspektive greift zu kurz. Ein erheblicher Teil der realen Bremswirkung entsteht in einem vorgelagerten System, das formal privat organisiert ist, praktisch jedoch tief in staatliche Steuerungsprozesse eingreift: der DIN-Normung. Das eigentliche Strukturproblem liegt nicht in der Existenz von Normen, sondern in ihrer faktischen Verrechtlichung durch Gerichte, Verwaltungspraxis, Haftungslogik und Versicherungswirtschaft. Technische Regeln werden so zu quasigesetzlichen Vorgaben – ohne parlamentarische Kosten-, Genehmigungs- oder Standortfolgenabschätzung.
Formal sind DIN-Normen freiwillig. In der Praxis gelten sie jedoch regelmäßig als „anerkannte Regeln der Technik“ und werden damit zum Maßstab für Genehmigungen, Haftungsfragen, Versicherungsprämien und Investitionsentscheidungen. Regulierung entsteht damit außerhalb des demokratisch legitimierten Gesetzgebungsprozesses. Genau hier liegt ein strukturelles Produktivitäts- und Standortproblem.
Der nachfolgende Beitrag versteht sich ausdrücklich als Reformvorschlag zur Weiterentwicklung der DIN-Normung. Er beschreibt keine bereits etablierten Verfahren, sondern skizziert eine mögliche zukünftige Steuerungslogik, mit der Normen stärker wirkungsorientiert, innovationsfreundlicher und standortverträglicher ausgestaltet werden können.
Der dysfunktionale Normenzyklus
Der Kreislauf ist in vielen Bereichen identisch: Eine technisch saubere Norm wird erarbeitet. Gerichte werten sie zur allgemeinen Regel der Technik auf. Verwaltungen orientieren sich an ihr zur maximalen Absicherung. Versicherer koppeln ihre Risikomodelle an formale Normkonformität. Unternehmen müssen zusätzliche Nachweise erbringen, Genehmigungen verzögern sich, Kosten steigen. Nach einem Schadensereignis folgt die nächste Präzisierung. So entsteht eine selbstverstärkende Überabsicherungsspirale.
Besonders deutlich zeigt sich dies im Bauwesen, im Brandschutz, in der Energie- und Anlagentechnik sowie in der IT-Sicherheit. Das Ergebnis ist nicht proportional steigende Sicherheit, sondern steigende Bau- und Investitionskosten bei sinkender Produktivität.
Im internationalen Vergleich zeigt sich zunehmend, dass Länder mit funktions- und prinzipienorientierter Regulierung schneller genehmigen, kostengünstiger bauen und innovationsfreundlicher investieren. Die deutsche Überverfestigung von Normen wirkt damit immer stärker als relativer Standortnachteil – nicht nur im Bauwesen, sondern ebenso bei Energieinfrastruktur, Digitalisierung und industriellen Anlagen. Normenpolitik ist damit längst kein rein technisches Thema mehr, sondern ein zentraler Faktor der internationalen Wettbewerbsfähigkeit.
Eine aktuelle Analyse des VBI bestätigt: DIN-Normen wirken im Bauwesen als systemischer Kostentreiber – verstärkt durch rechtliche Verbindlichmachung und Haftungslogik.
Technik-PDCA ohne Wirkungs-PDCA
Die Normung folgt heute einem ausgeprägten technischen Verbesserungsprozess. Was fehlt, ist ein gleichwertiger PDCA-Zyklus auf der volkswirtschaftlichen Wirkungsebene. Kostenfolgen, Genehmigungswirkungen, Produktivitätseinflüsse und Innovationshemmnisse werden nicht systematisch erhoben und rückgekoppelt. Normen werden technisch immer präziser, wirtschaftlich aber unkontrollierter. Hier liegt eine zentrale Steuerungslücke.
Verdünnte Verantwortung im Normensystem
Normen entstehen in Gremienstrukturen mit hoher fachlicher Qualität, aber mit geringer persönlicher Ergebnisverantwortung für gesamtwirtschaftliche Wirkungen. Niemand haftet institutionell für Kostenexplosionen, Genehmigungsstaus oder Investitionshemmnisse. Verantwortung verdunstet im System. Dieses Defizit ist eine zentrale Ursache für die Reformträgheit der Normung.
Dynamisierung statt Abschaffung der Normung
Die Antwort kann nicht die Abschaffung von Normen sein, sondern ihre konsequente Dynamisierung im Sinne einer lernenden Knowledge-Creating-Haltung. Normen müssen wieder als vorläufige Arbeitsstandards verstanden werden, nicht als statische Endzustände. Dazu gehören kontinuierliche Praxis-Reviews, systematisches Anwenderfeedback, verpflichtende Wirkungsbewertungen und reale Erprobungen in Reallaboren.
Neue Leitprinzipien der Entbürokratisierung
Künftige Normung muss vier ordnungspolitischen Leitprinzipien folgen:
- Funktions- statt Rezeptnormen.
- Steuerung über Netto-Wirkung statt über Regelmengen.
- echte Technologieoffenheit durch Alternativenprinzip.
- klare Verantwortungszuordnung statt anonymer Gremienlogik.
Das Normen-Verbesserungsvorschlagswesen
Praxiswissen liegt bei Anwendern. Deshalb braucht es ein verbindliches, niedrigschwelliges Normen-Verbesserungsvorschlagswesen. Unternehmen, Planer, Verwaltung und Prüforganisationen müssen strukturiert Eingriffe anstoßen können. Strittige Regelungen sind verpflichtend in Reallaboren zu testen. Unwirtschaftliche Normbestandteile müssen temporär ausgesetzt werden können, bis ihre Wirkung überprüft ist.
Anreize statt Stillstand
Verbesserung entsteht nicht aus moralischem Appell. Wer Normen vereinfacht, Kosten senkt oder Genehmigungen beschleunigt, braucht Sichtbarkeit, wirtschaftliche Vorteile, beschleunigte Verfahren sowie Schutz vor institutioneller Blockade. Normenverbesserung ist ein Beitrag zur Wertschöpfung – sie muss auch so behandelt werden.
Das Normen-Wirkungsmonitoring
Ohne Messung keine Steuerung. Für alle normrelevanten Bereiche braucht es ein systematisches Wirkungsmonitoring. Erfasst werden Nutzungsfrequenz, Kostenwirkungen, Genehmigungswirkungen und Haftungsrelevanz. Diese Daten münden in einen Normen-Wirkungsindex mit öffentlicher Berichterstattung. Damit wird Normung erstmals steuerbar.
Der Normen-In/Out-Controller
Entbürokratisierung darf nicht mechanisch erfolgen. Entscheidend ist die Netto-Wirkung neuer und entfallender Anforderungen. Der Normen-In/Out-Controller bilanziert jährlich reale Belastungen und Entlastungen. Er ersetzt Symbolpolitik durch wirkungsbasierte Steuerung.
Wirkungsbasierte Clusterung der Normen
Normen entfalten sehr unterschiedliche volkswirtschaftliche Wirkungen. Sicherheitskernnormen, kostenrelevante Normen, genehmigungswirksame Normen, innovationskritische Normen und verwaltungsnahe Prozessnormen müssen unterschiedlich gesteuert werden. Erst diese Differenzierung ermöglicht gezielte Reform statt pauschaler Deregulierung.
Saubere Trennung von Gesetz, Norm und Haftung
Gesetze haben Schutzziele zu formulieren, nicht technische Detailvorgaben. Normverweise in Gesetzen dürfen nur statisch erfolgen und müssen einer Folgenabschätzung unterliegen. DIN-Normen sind rechtlich als widerlegbare Vermutungsregeln einzuordnen. Haftung ist künftig an realer Gefährdung auszurichten, nicht an bloßer Normkonformität.
Modularisierung dort, wo sinnvoll
Wo technisch möglich, ist eine modulare Struktur der Normen anzustreben. Sicherheitskerne bleiben stabil, kosten-, genehmigungs- und innovationsnahe Bereiche werden flexibel und KI-fähig. Nicht jede Norm eignet sich für Modularität – aber dort, wo sie sinnvoll ist, erhöht sie Anpassungsgeschwindigkeit und Automatisierbarkeit deutlich.
Versicherungswirtschaft als Mit-Regulator
Ein erheblicher Normentreiber liegt in der Versicherungs- und Haftungslogik. Prämien, Deckung und Risikobewertung sind häufig direkt an formale Normkonformität gekoppelt. Versicherer wirken damit faktisch als stille Mit-Regulatoren. Künftig müssen sie systematisch in Reallabore und Wirkungsmonitoring eingebunden werden.
Alt-Normen, Sunset-Logik und Bestandsschutz
Nicht neue Normen sind das Hauptproblem, sondern der historische Normenbestand. Normen müssen befristet werden. Verlängerungen erfolgen nur nach positiver Wirkungsprüfung. Für bestehende Anlagen gilt echter Bestandsschutz. Nachrüstpflichten dürfen nur bei klarer Gefährdung angeordnet werden.
Die neue Steuerungsarchitektur der Normung
Im Zentrum der künftigen Normensteuerung steht ein dauerhaftes Normen-Wirkungsmonitoring mit öffentlichem Dashboard. Jede Norm erhält einen klar benannten Norm-Owner mit Verantwortung für technische Qualität und volkswirtschaftliche Wirkung. Neue Belastungen werden über den Normen-In/Out-Controller bilanziert. Das Verbesserungsvorschlagswesen bildet den operativen Eingang in den Steuerungsprozess. Bei negativen Wirkungsindikatoren greifen automatische Review-Mechanismen. Damit entsteht erstmals ein geschlossener, lernender Steuerungskreislauf.
Verbindlichkeit durch Zeit – Fristen und Zyklen
Jeder Verbesserungsvorschlag wird innerhalb von 30 Tagen formal geprüft, nach 90 Tagen fachlich entschieden und nach spätestens 180 Tagen umgesetzt oder begründet abgelehnt. Normen mit dauerhaft negativer Wirkungsbewertung werden innerhalb eines Jahres überprüft. Alt-Normen unterliegen festen Revisionszyklen. Der jährliche Normen-Wirkungsbericht schafft politische Rechenschaft.
Stufenweise Umsetzbarkeit der Reform
Ein erster Umsetzungsschritt ist sofort möglich: Pilot-Monitoring, Norm-Owner, Reallabore, freiwillige In/Out-Bilanzen.
Ein zweiter Schritt erfordert Ressortentscheidungen: verbindliches Wirkungsdashboard, Verbesserungsvorschlagswesen, Clustersteuerung.
Ein dritter, begrenzter Teil bedarf parlamentarischer Entscheidungen: Trennung von Gesetz, Norm und Haftung, dynamische Normverweise, Sunset-Regeln.
Die Reform ist damit politisch realistisch, administrativ anschlussfähig und wirtschaftlich wirksam.
Fazit
Normung darf kein juristisches Ersatz-Regelsystem bleiben. Sie muss sich entwickeln – von der haftungsgetriebenen Absicherung hin zu einer lernenden, wirkungsorientierten Standort-Infrastruktur. Nicht weniger Sicherheit ist das Ziel, sondern mehr Verantwortung, mehr Transparenz, mehr Innovation, mehr Investitionssicherheit und höhere Produktivität.
Die Verantwortung für diese Reform liegt nicht bei einer einzelnen Institution. Sie erfordert das koordinierte Handeln von DIN, Bund, Ländern, Kommunen, Gerichten, Versicherungswirtschaft und Wirtschaft. Normenpolitik ist Standortpolitik – und damit eine Führungsaufgabe der politischen Exekutive auf allen Ebenen.
Normen müssen wieder das werden, was sie ursprünglich sein sollten:
das beste aktuell verfügbare, überprüfbare und kontinuierlich verbesserbare Wissen für die Praxis.
