Warum Deutschlands Wettbewerbsfähigkeit im Unternehmen beginnt – und im Ökosystem sowie in der Ordnungspolitik entschieden wird
Deutschland verliert spürbar an industrieller Wertschöpfung. Seit 2017 stagniert die Arbeitsproduktivität – ein deutliches Warnsignal für ein Land, dessen Wohlstandsmodell auf industrieller Leistungsfähigkeit beruht. Parallel dazu prüfen immer mehr Unternehmen nicht nur neue Produktionskapazitäten, sondern auch die Entwicklung neuer Produkte und Geschäftsmodelle ins Ausland zu verlagern. Getrieben sind diese Überlegungen von Kosten, Geschwindigkeit, regulatorischen Rahmenbedingungen, Qualitätsanforderungen und fehlender Planbarkeit.
Diese Entwicklung ist kein isoliertes Phänomen einzelner Unternehmen. Sie ist Ausdruck eines systemischen Spannungsfeldes zwischen unternehmerischer Leistungsfähigkeit, staatlichem Ordnungsrahmen, Energie- und Rohstoffpolitik, Handelsbeziehungen und der Stärke des gesamten industriellen Ökosystems. Die zentrale Frage lautet daher nicht, ob verlagert wird, sondern ob Unternehmen, Staat und Gesellschaft gemeinsam noch wettbewerbsfähig aufgestellt sind.
Wettbewerbsfähigkeit beginnt im Unternehmen
Bevor aus Kosten- oder gar Gründen der Gefährdung der notwendigen Profitabilität über Standortverlagerungen gesprochen werden darf, müssen die Hausaufgaben im Inland konsequent gemacht werden.
Wettbewerbsfähigkeit entsteht nicht durch Förderkulissen oder politische Appelle, sondern durch die richtigen Produkte, Dienstleistungen oder Geschäftsmodell und produktive Exzellenz in der Wertschöpfung.
Die Produkte, Dienstleistungen oder Geschäftsmodelle müssen innovativ global wettbewerbsfähig gehalten werden. Produktivität muss systematisch gesteigert, Verschwendung dauerhaft eliminiert, Prozesse und Qualität stabil beherrscht werden. Automatisierung und KI müssen wirksam eingesetzt, Wertströme, Layouts und Varianten neu gedacht werden. Führung, Verantwortung und Entscheidungstempo sind ebenso zu stärken wie die volle Transparenz über Kosten, Qualität und Produktivität. Dazu gehört ausdrücklich auch die konstruktive Einbindung der Betriebsräte, etwa über Betriebsvereinbarungen zu Flexibilität, Arbeitsorganisation, Qualifizierung und Effizienz.
Das ist der Kern des Lean-Management-Verständnisses: Kein punktuelles Optimieren, sondern die konsequente Beherrschung des gesamten Wertschöpfungssystems. Gleichzeitig wird hier ein wirksames Leadership-Modell sichtbar: Selbstführung, Verantwortungsübernahme und klare Ergebnisorientierung sind keine "weichen Faktoren", sondern harte Produktivitätstreiber. Technik allein löst kein Strukturproblem – Führung entscheidet.
Knowledge Creating Company: Lernen, KI und Technologie als Produktivitätskern
Die folgende Abbildung zeigt, wie Lean & Agile, Digitalisierung und KI in der Knowledge Creating Company zusammenwirken und als Lern- und Kompetenzbasis die Smart Factories der Typen I bis III erst ermöglichen.

Produktivität entsteht heute aus dem Zusammenspiel von Haltung, Wissen, Methode, Technologie und kontinuierlichem Lernen. Lean & Agile bilden das methodische Fundament, Digitalisierung skaliert Prozesse, Künstliche Intelligenz wird zum entscheidenden Beschleuniger. Unternehmen, die diese Stufen systematisch verbinden, erhöhen nicht nur ihre Effizienz, sondern auch ihre Innovationsgeschwindigkeit, ihre Kostenposition und ihre Resilienz. Die Knowledge Creating Company ist damit kein theoretisches Leitbild, sondern ein konkreter Wettbewerbsfaktor: Lernen wird zur produktiven Kraftquelle.
Innovation von Produkten, Dienstleistungen und Geschäftsmodellen als Wachstumsmotor
Wettbewerbsfähigkeit entsteht nicht allein aus effizienter Produktion, sondern vor allem aus der kontinuierlichen Erneuerung von Produkten, Dienstleistungen und Geschäftsmodellen.
Die folgende Abbildung verdeutlicht, wie sich Optimierung, inkrementelle und radikale Innovation entlang von Technologie, Märkten und Geschäftsmodellen systematisch entwickeln – und warum nur die bewusste Mischung aus allen drei Wachstum nachhaltig absichert.

Innovation ist kein isoliertes F&E-Thema, sondern ein unternehmerischer Gesamtprozess – von der Marktbeobachtung über die Kundenintegration bis zur Skalierung im industriellen Betrieb. Nur wer Produktinnovationen mit Serviceinnovationen und neuen Geschäftsmodellen verbindet, erschließt nachhaltig neue Ertragsquellen.
Gerade im internationalen Wettbewerb reicht inkrementelle Verbesserung allein nicht mehr aus. Radikale Innovationen in Funktionen, Architektur, Nutzungskonzepten und Wertschöpfungslogiken entscheiden zunehmend über Marktführerschaft. Digitale Dienste, datenbasierte Geschäftsmodelle, Plattformansätze, Pay-per-Use-Modelle oder KI-gestützte Servicekonzepte verschieben die Wertschöpfung vom einmaligen Produktverkauf hin zu kontinuierlichen Erlösströmen.
Die Fähigkeit zur kontinuierlichen Innovation ist damit ein Kernbestandteil der Knowledge Creating Company. Sie verlangt unternehmerische Freiheitsgrade, kurze Entscheidungswege, mutige Investitionen sowie ein hohes Maß an Lern- und Fehlerkultur. Wo Innovation systematisch unterbunden oder aus Kostendruck externalisiert wird, verliert der Standort langfristig technologische Souveränität.
Dark Smart Factories als industrielle Antwort des Hochlohnlands
Für ein Hochlohnland wie Deutschland ist der Weg eindeutig: Kostenführerschaft kann nur über High-Tech-Automatisierung, durchgängige Digitalisierung und KI erreicht werden. Dark Smart Factories stehen für diesen Weg. Sie verbinden Automatisierung, datengetriebene Steuerung, höchste Verfügbarkeit, minimale Fehlerquoten und maximale Variantenflexibilität. In Verbindung mit KI in der Smart Factory entstehen Produktionssysteme, die rund um die Uhr hochproduktiv arbeiten und gleichzeitig Qualität und Geschwindigkeit vereinen.
Zur Einordnung lassen sich drei Ausprägungen von Smart Factory unterscheiden, die jeweils unterschiedliche Reifegrade, Investitionslogiken und Wirkhebel adressieren:
Smart Factory Typ I – Flexible Nischen- und Variantenfertigung. Dieser Typ ist geprägt durch hohe Variantenvielfalt, kleine bis mittlere Losgrößen und enge Kundennähe. Automatisierung erfolgt selektiv, häufig kombiniert mit kollaborativen Robotern, digitalen Assistenzsystemen und durchgängiger Prozessdigitalisierung. Ziel ist nicht maximale Automatisierungsquote, sondern höchste Flexibilität, schnelle Umrüstung, stabile Qualität und kurze Durchlaufzeiten. Typ I ist typisch für spezialisierte Mittelständler, die mit hoher Engineering-Kompetenz und kundenspezifischen Lösungen Wettbewerbsvorteile erzielen.
Smart Factory Typ II – Skalierbare Serienfertigung mit Variantenbeherrschung. Dieser Typ verbindet signifikante Automatisierung mit hoher Variantenfähigkeit. Prozesse sind weitgehend standardisiert, digital vernetzt und KI-gestützt optimiert. Der Fokus liegt auf Produktivitätshebeln, OEE-Steigerung, vorausschauender Instandhaltung, automatisierter Qualitätsüberwachung und durchgängigen Wertströmen. Typ II ist das Rückgrat wettbewerbsfähiger Mid-Tech-Industrie und entscheidend für Kostenführerschaft bei gleichzeitiger Marktnähe.
Smart Factory Typ III – Hochautomatisierte Großserie / Dark Factory. Dieser Typ steht für maximale Automatisierung bis hin zur weitgehend menschenleeren Fertigung. Prozesse sind vollständig integriert, selbstoptimierend und datengetrieben. KI steuert Planung, Qualität, Materialfluss und Instandhaltung nahezu in Echtzeit. Ziel sind extreme Produktivität, minimale Stückkosten, höchste Reproduzierbarkeit und globale Skalierbarkeit. Typ III ist strategisch für Deep- und High-Tech-Wertschöpfung sowie für internationale Kostenführerschaft.
Die zentrale Herausforderung besteht darin, die Prinzipien aus Typ III – insbesondere Datenintegration, KI-Steuerung, OEE-Fokus und Lernzyklen – systematisch auf Typ I und II zu übertragen. Genau hier entscheidet sich, ob ein Hochlohnstandort wie Deutschland seine industrielle Basis nicht nur hält, sondern produktiv erneuert.
Business Ecosystems als eigentliche Wettbewerbsarena
Die folgende Abbildung verdeutlicht, wie Business Ecosystems durch das Zusammenspiel von Start-ups, Unternehmen, Hochschulen und Initiativen das Momentum von Innovation, Gründung und Skalierung erzeugen – und damit erst echte Standortdynamik schaffen.
Unternehmen sind niemals nur Werke oder Bilanzen. Sie sind Teil eines industriellen Ökosystems, bestehend aus Zulieferern, Fachkräften, Hochschulen, Kapital, Energie- und Verkehrsinfrastruktur, Verwaltung, Regulierung, Märkten, Kunden sowie einer gemeinsamen kulturellen Haltung zu Leistung, Verantwortung und Geschwindigkeit. Ist dieses Ökosystem leistungsfähig, entstehen Innovation, Skalierung und Wertschöpfung. Erodiert es, wandern nicht nur Werke ab, sondern auch Entwicklung, Know-how, Vertrauen und unternehmerische Initiative.
Energiepolitik: Das Energiedreieck als harte Standortbedingung
Ein wettbewerbsfähiger Industriestandort braucht eine Energiepolitik, die Versorgungssicherheit, Bezahlbarkeit und Klimaverträglichkeit gleichzeitig erfüllt. In Deutschland sind vor allem Kosten und Planungssicherheit aus dem Gleichgewicht geraten. Ohne stabile Netze, gesicherte Grundlast, wettbewerbsfähige Strompreise und verlässliche Backup-Kapazitäten werden weder neue Fabriken noch Transformationsinvestitionen entstehen.
Rohstoffe: Die stille Achillesferse der Transformation
Elektromobilität, Batterien, Halbleiter, KI, Wasserstoff, neue Werkstoffe – alles hängt an kritischen Rohstoffen. Deutschland ist hier nahezu vollständig importabhängig. Ohne strategische Rohstoffpartnerschaften, verlässliche Handelsbeziehungen, Recyclingstrategien und industriepolitische Sicherungsketten bleibt jede Transformationsstrategie fragil.
Handelsverträge: Ohne Marktzugang keine Industrie
Deutschlands Industrie bleibt auf offene Märkte angewiesen. Ohne funktionierende Handelsverträge, faire Wettbewerbsbedingungen und Schutz vor Wettbewerbsverzerrungen verliert die exportorientierte Industrie systematisch Marktanteile. Handelspolitik ist heute Industriepolitik mit anderen Mitteln.
Der Staat als Ermöglicher im globalen Wettbewerb
Der Staat ist kein Randakteur der Transformation, sondern ein zentraler Produktivitätsfaktor. Genehmigungszeiten, Energiepolitik, Infrastruktur, Regulierung, Digitalisierung der Verwaltung und Planungssicherheit prägen unmittelbar die Investitions- und Innovationsfähigkeit der Unternehmen. Entscheidend ist dabei seine Rolle als Ermöglicher im globalen Wettbewerb. Wie in erfolgreichen Unternehmen gilt auch für staatliches Handeln: Die Augen müssen weltweit offen gehalten, schwache Signale früh wahrgenommen, internationale Benchmarks systematisch genutzt und das eigene Handeln permanent verbessert werden.
Die zentrale Aufgabe des Staates besteht darin, dauerhaft die besten Rahmenbedingungen zu gewährleisten – strategisch, vorausschauend und wirkungsorientiert. Als Ermöglicher von Wohlstand und Wertschöpfung trägt er Verantwortung für das funktionierende Zusammenspiel von Individuum, Gesellschaft, Unternehmen und öffentlicher Ordnung. Prinzipienorientierung statt Regelflut und Verantwortung beim Handelnden statt Verfahrensstau sind dabei entscheidend.
Einordnung in die 5 Säulen des Handelns
Die Gesamtlage und ihre Lösung lassen sich in die 5 Säulen des Handelns einordnen: Deep & High Tech schaffen die technologische Basis. Mid Tech und systemrelevante Bereiche sichern das industrielle Rückgrat. Ein leistungsfähiger Kapitalmarkt ermöglicht Investitionen. Bildung und Kompetenz bilden die Grundlage der Knowledge Creating Company. Politik und Ordnung setzen den wirksamen Rahmen für Energie, Rohstoffe, Handel, Regulierung und Geschwindigkeit.
Verantwortung für den Standort Deutschland
Erst wenn diese unternehmerischen, ökosystemischen und staatlichen Potenziale gehoben sind, lässt sich verantwortungsvoll bewerten, ob eine Verlagerung wirklich notwendig ist – bevor industrielle Substanz verloren geht, die sich nicht mehr zurückholen lässt.
Fazit
Deutschland verfügt über technologische Exzellenz, starke industrielle Kerne und leistungsfähige Mittelständler. Doch Wettbewerbsfähigkeit entsteht nicht aus historischer Stärke, sondern aus täglicher Erneuerung. Sie entsteht im Unternehmen durch Lean, KI und Führung, im Ökosystem durch funktionierende Netzwerke, in der Politik durch Energie-, Rohstoff- und Handelssouveränität und im Staat durch Geschwindigkeit, Klarheit und Wirksamkeit.
Deutschland hat das Potenzial. Jetzt muss es politisch, unternehmerisch und gesellschaftlich konsequent genutzt werden.
