Die Welt verstehen mit VINCI –
Ein Deutungsmodell für komplexe Zeiten
Die Welt, in der wir leben, ist nicht nur schnell und volatil – sie ist zunehmend vernetzt, nicht-linear und schwer durchschaubar. Neben den bekannten Konzepten wie VUCA und BANI etabliert sich ein neues Modell, das diese Realität noch feiner beschreibt: VINCI. Es eignet sich besonders für Führungskräfte, Strategen und Systemdenker, die mit multiplen Wechselwirkungen, Unsicherheiten und unklaren Zukunftspfaden umgehen müssen.
Was ist VINCI?
VINCI steht für:
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Volatility (Volatilität) – Die Welt ist von sprunghaften Veränderungen und Unbeständigkeit geprägt. Prognosen verlieren schnell ihre Gültigkeit.
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Interdependence (Wechselseitige Abhängigkeit) – Systeme sind hochgradig miteinander verflochten. Entscheidungen in einem Bereich wirken sich sofort auf andere aus.
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Non-linearity (Nicht-Linearität) – Kleine Ursachen können große Wirkungen entfalten, während große Interventionen wirkungslos verpuffen können.
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Complexity (Komplexität) – Vielschichtige Zusammenhänge und Rückkopplungen machen einfache Ursache-Wirkung-Analysen unzureichend.
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Incomprehensibility (Unverständlichkeit) – Entwicklungen erscheinen irrational oder widersprüchlich. Selbst Expert:innen fällt es schwer, die Lage klar zu deuten.
Unterschiede zu VUCA und BANI
Während VUCA als erstes Deutungsmodell die Notwendigkeit zur Anpassung betonte und BANI die emotionale Zerbrechlichkeit und Überforderung ins Zentrum rückte, zielt VINCI stärker auf die systemische Analyse und strategische Navigation. Es hilft, nicht nur zu reagieren, sondern proaktiv Muster und Hebelpunkte zu erkennen.
Zusammenhang von VUCA, BANI und VINCI
Alle drei Modelle beschreiben eine Welt, die nicht mehr planbar ist – jedoch mit unterschiedlichem Fokus:
Aspekt |
VUCA |
BANI |
VINCI |
---|---|---|---|
Entstehung |
1990er, US-Militär |
ab ca. 2020, Krisen- und Zukunftsforschung |
ab ca. 2023, systemisch-strategische Perspektive |
Fokus |
Dynamik & Unsicherheit |
Emotionale & psychologische Belastung |
Systemische Verflechtung & strategische Navigation |
Akronym für |
Volatility, Uncertainty, Complexity, Ambiguity |
Brittle, |
Volatility |
Zielrichtung |
Orientierung für Strategie & Führung |
Bewusstmachung der Überforderung |
Systemisch denken, Komplexität navigieren |
Menschliche Komponente |
implizit |
zentral (Angst, Überforderung) |
integriert, aber nicht im Zentrum |
Systemtheore-tischer Bezug |
gering |
mittel (emotionaler Wandel) |
hoch (Wechselwirkungen, emergente Dynamiken) |
Praxisnutzen |
Strategiemodell |
Warnsystem und Empathieindikator |
Navigationshilfe und Führungslogik |
Zusammengefasst:
-
VUCA erklärt die neue Welt.
-
BANI zeigt, wie wir sie erleben.
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VINCI hilft, in ihr wirksam zu handeln.
VINCI im Kontext des Cynefin-Frameworks
Ein tieferes Verständnis für die Wirkung von VINCI entsteht im Zusammenspiel mit dem Cynefin-Framework – einem Modell, das Situationen in fünf Kontexte unterteilt: einfach, kompliziert, komplex, chaotisch und ungeordnet. Je nach Kontext unterscheidet sich das geeignete Führungsverhalten.
VINCI ergänzt Cynefin, indem es die qualitativen Eigenschaften der Domänen emotional, dynamisch und systemisch beschreibt:
VINCI-Element |
Entsprechende Cynefin-Domäne |
Bedeutung im Kontext |
---|---|---|
Volatility |
Kompliziert → Komplex |
Veränderungen werden unberechenbar – klare Ursache-Wirkung bricht auf |
Interdependence |
Komplex |
Vernetzte Systeme erzeugen nichtlineare Rückkopplungseffekte |
Nonlinearity |
Komplex / Chaotisch |
Kleine Ursachen führen zu großen, oft unerwarteten Wirkungen |
Complexity |
Komplex |
Mehrdeutigkeit und emergente Dynamiken erschweren Planung |
Incomprehensibility |
Chaotisch |
Die Situation entzieht sich jeder Erklärung – Handeln vor Verstehen |
Insbesondere in den komplexen und chaotischen Domänen, in denen klassische Steuerung versagt, gewinnt VINCI an Bedeutung. Dort empfiehlt das Cynefin-Framework:
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In komplexen Situationen: Probehandeln – Beobachten – Reagieren
-
In chaotischen Situationen: Sofort handeln – dann analysieren – dann reagieren
Genau hier hilft VINCI, nicht in der Überforderung zu verharren, sondern handlungsfähig zu bleiben. Es macht bewusst, dass wir nicht alles verstehen oder planen können – und dass Führung heute bedeutet, Räume für Experimente, Sicherheit im Umgang mit Unsicherheit und Vertrauen in kollektive Lernprozesse zu schaffen.
Wie arbeite ich mit VINCI? – Praktische Anwendung
VINCI ist kein Werkzeugkasten, sondern ein Denkrahmen. Die Anwendung zielt darauf, Muster zu erkennen, Führungshandeln anzupassen und neue Lern- und Entscheidungsräume zu öffnen.
1. Situationsdiagnose mit der VINCI-Brille
Nutze die fünf Elemente als Leitfragen:
VINCI-Element |
Leitfrage zur Diagnose |
---|---|
Volatility |
Wie schnell und unvorhersehbar verändern sich Rahmenbedingungen? |
Interdependence |
Welche Wechselwirkungen bestehen mit anderen Akteuren/Systemen? |
Nonlinearity |
Gibt es disproportionale Effekte kleiner Impulse? |
Complexity |
Wie viele Einflussfaktoren und Rückkopplungsschleifen gibt es? |
Incomprehensibility |
Wo fehlen uns Klarheit oder gemeinsames Verständnis? |
2. Haltungswechsel: Von Steuerung zu Navigation
Klassisch |
VINCI-orientiert |
---|---|
Planen → Umsetzen |
Beobachten → Experimentieren → Lernen |
Kontrolle |
Vertrauen & Selbstorganisation |
Sicherheit suchen |
Sicherheit im Umgang mit Unsicherheit schaffen |
Zielgenauigkeit |
Sinnfokus & Richtungskompetenz |
3. Methodische Ableitungen
VINCI-Dimension |
Sinnvolle methodische Ansätze |
---|---|
Volatility |
Szenarien, Frühwarnsysteme, Entscheidungsoptionen |
Interdependence |
System-Mapping, Stakeholder-Dialoge, Netzwerkanalyse |
Nonlinearity |
Hypothesengetriebenes Arbeiten, Prototyping, Simulation |
Complexity |
Agiles Arbeiten, iterative Feedbackschleifen |
Incomprehensibility |
Sensemaking, Storytelling, Co-Interpretation |
4. Führungsprinzipien im VINCI-Kontext
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Unsicherheit aushalten – ohne in Lähmung zu verfallen
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Fehlerkultur leben – Lernen aus Irrtümern ermöglichen
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Beziehungen stärken – Wirkung durch Vernetzung
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Verantwortung fördern – statt Kontrolle durchzusetzen
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Klarheit schaffen – auch wenn die Welt unklar ist
5. Anwendungsfelder
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Strategie: Welche Entscheidungen wirken wohin? Welche Nebenwirkungen sind zu erwarten?
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Politik: Wie wirken Interventionen systemisch zurück? Welche psychologischen Effekte entstehen?
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Projekte: Wo ist klassische Planung ungeeignet? Wo brauchen wir adaptive Steuerung?
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Kommunikation: Wo braucht es nicht mehr Erklärung, sondern geteiltes Sinnverständnis?
Warum VINCI jetzt wichtig ist
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Für Strategie und Politik: Klassische Steuerungslogiken greifen oft zu kurz. VINCI fördert ein Denken in Systemdynamiken, Wechselwirkungen und Szenarien.
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Für Organisationen: Es ermutigt dazu, jenseits von Effizienz nach Resilienz, Lernfähigkeit und Antifragilität zu streben.
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Für Führung: Statt Kontrolle braucht es Kontextverstehen, statt Planung braucht es Perspektivwechsel, statt Sicherheit braucht es das Vertrauen in lernfähige Teams.
Fazit
VINCI ist kein weiteres Modewort, sondern ein ernstzunehmendes Deutungsmodell für alle, die sich nicht mit einfachen Antworten zufriedengeben. Es lädt dazu ein, komplexe Systeme systemisch zu begreifen und sich der Realität nicht durch Vereinfachung, sondern durch Einsicht zu nähern. In Zeiten von Polykrisen, Disruption und globalen Umbrüchen ist das genau die Art von Denkwerkzeug, die wir brauchen.
📚 Quellenverzeichnis
Zu VUCA:
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Bennett, N., & Lemoine, G. J. (2014). What VUCA really means for you. Harvard Business Review, 92(1/2), 27.
Zu BANI:
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Cascio, J. (2020). Facing the Age of Chaos – BANI vs. VUCA. Medium.
https://medium.com/@cascio/facing-the-age-of-chaos-bani-vs-vuca-7060c48b1c3c
Zu VINCI:
-
Berendes, K. (2023). Navigieren in der Welt von VINCI. zukunftsInstitut.de (nicht mehr verfügbar; archiviert über interne Recherchen).
Zu Cynefin:
-
Snowden, D. J., & Boone, M. E. (2007). A leader’s framework for decision making. Harvard Business Review, 85(11), 68–76.
https://hbr.org/2007/11/a-leaders-framework-for-decision-making
Weitere systemtheoretische und praxisnahe Bezüge:
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Kahane, A. (2010). Power and Love: A Theory and Practice of Social Change. Berrett-Koehler Publishers.
-
Senge, P. M. (1990). The Fifth Discipline: The Art and Practice of the Learning Organization. Doubleday.
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Weick, K. E. (1995). Sensemaking in Organizations. Sage Publications.